Nachts, wenn der Ruf des Muizin verhallt ist und das Gebell der streunenden Hundebanden die schwüle, dicke Luft erfüllt, dann kommt sie ein wenig zu Ruhe. Das pulsierende Dröhnen der zusammengeflickten Zwei- und Dreiräder ebbt ab, als würde sie tief einatmen und den Atem für einen Moment innehalten. In dunklen, staubigen Gassen, die, gesäumt von Müll und Schutt von den beleuchteten, breiten Hauptstraßen abzweigen, surren hinter den unverputzten Fassaden der meist unvollendet anmutenden Häuser die Ventilatoren ihr immer gleiches Lied und wiegen die Menschen in den Schlaf.
Ganz egal, welchem Schicksal sie tagsüber auch folgen. Ob sie Ihre Rikscha, ähnlich einem Schlangenbeschwörer, durch den wimmelnden, an einen Ameisenhaufen erinnernden Verkehr schlängeln und immer auch mit ihrem Leben spielen. Oder ob sie auf einer der belebten Einkaufsstraßen um eine Rupie betteln, gehüllt in Lumpen, oft noch im Kindesalter, die Haare verfilzt und die unbeschuhten Füße so schmutzig, wie die Höfe und Gassen hinter den Glitzerfassaden, jeder Blick ein herzerbarmendes Flehen. Ob sie in bestes Tuch gehüllt, versteckt hinter großen Sonnenbrillen der angesagten internationalen Labels, in meist aus japanischer Produktion stammenden riesigen SUV’s direkt vor die Tempel der Verheißung chauffiert werden, von Männern, die in einem Monat weniger verdienen, als die Sonnenbrille der so chauffierten gekostet hat. Oder ob sie die Männer sind, die in klimatisierten Hinterzimmern das Geld ergaunern, welches den SUV samt Chauffeur und alle die anderen Symbole der Macht und des Reichtums erst möglich macht, mit Geschäften die so weit entfernt sind von dem, was in den nahen Moscheen 5 mal täglich gepredigt wird, wie der Planet Neptun von der Erde.
Oder ob sie zu den jungen Frauen gehören, die altes in Frage stellen, die unabhängig sein möchten, vom zukünftigen Ehemann, den die Familie ihnen zudenken wird. Und die unzähligen Tagelöhner, die in kleinen, schummrig beleuchteten Werkstätten entlang der Straßen und in den Hinterhöfen alles flicken, was geflickt werden kann und auch die Dinge, die eigentlich nicht geflickt werden können. Die in Verschlägen, in denen man nicht aufrecht stehen kann, die Kleider für die Damen aus den reichen Familien schneiden, nähen und besticken, die Frauen und jungen Mädchen, die in den Fast Food Ketten die Pommes und Burgerreste vom Boden fegen.
Sie alle sind vereint in dem einen, großen Traum von einer besseren Zukunft, vielleicht schon am nächsten Tag, nach dem nächsten Gebet, während die Rotoren an den Decken einsam ihre Runden drehen.
Dann atmet sie aus, beendet den großen, gemeinsamen Traum und spuckt die Menschen in einen neuen Tag. Alles beginnt von vorn, im immer gleichen Rhythmus, dem Puls von Karachi. Nach dem ersten Gebet, noch vor Sonnenaufgang, schwärmt ein Großteil der Bewohner aus, wie Arbeitsbienen, auf der Suche nach der nächsten Blüte, gekleidet in den traditionellen Schalwar Kameez, weite, pludrigen Hosen und dazu farblich passende, knielange, seitlich geschlitzte Hemden oder Blusen, erst vereinzelt, dann in immer stärker anschwellenden Schwärmen, allein, zu dritt oder zu viert auf zwei Rädern, drei oder auch vier Rädern, zu Fuss oder in einem der phantasievoll, bunt bemalten und verzierten kleinen Bussen, die schnell aus allen Nähten platzen, so dass ein Teil der Passagiere auf dem Dach Platz nehmen muss. Aus jeder noch so kleinen Gasse strömen sie hierbei, wie Bäche nach der Schneeschmelze im Frühjahr und alle münden sie in den großen, ewig fließenden Strom, der niemals versiegt. Die Mischung aus Staub und Abgasen die sie dabei produzieren, liegt wie ein Schleier über Stadt und lässt das Blau des verheißenen Himmels oft nur erahnen.
Straßenhändler beginnen, ihre dürftig zusammengezimmerten Holzwagen mit saftigen, süssen Melonen, dunkelgelben Bananen oder frischem Gemüse, Eiern und allem, was für die Zubereitung eines Currys, der klassisch pakistanischen Zubereitung von verschiedenen Gerichten benötigt wird, zu beladen. Dann machen sie sich auf den Weg, ihre Ware in jeden noch so kleinen Winkel, der, staubig, dreckigen Nebenstraßen, zu transportieren. Ihr lautstarken Anpreisungen übertönen für einen Moment den zauberhaften Gesang des Mynas, eines dem Star ähnlichen Vogels, der sich die Lüfte mit Spatzen und einer großen Anzahl von bussartgroßen Raubvögeln, die unablässig ihre Runden drehen, in der Hoffnung, ein Getier zu erwischen, welches in den Müllbergen nach einem verzehrbaren Rest sucht und dem vielstimmigen Knattern der Zweitakter. Oft sind es scheinbar Männer, die die Rufe der Händler erhören und die Ware dann in Augenschein nehmen. Da wird betastet, beklopft, abgewogen, wieder hingelegt und neu in die Hand genommen, wie ein Ritual, als wäre es verboten, zu schnell zuzugreifen. Im Grunde genommen weiß der Käufer nach dieser Zeremonie mehr über seine Melone, als über seine (zukünftige) Ehefrau, zum Zeitpunkt der Heirat. Und während der Händler weiterzieht und mit seinen ausgelatschten Sandalen den Staub des Weges aufwirbelt, nach dem er die Waren auf die althergebrachte Art abgewogen hat und ein paar Rupien dafür eingestrichen hat, bezieht zwei Straßenzüge weiter die schwer bewaffnete Security am Eingang des nächsten Einkaufcenters mit irgendeinem, Hauptsache englischen Namen Stellung, welches genauso gut in Washington, London oder Paris stehen könnte, dann allerdings ohne Männer in kakifarbenen Uniformen. An ihnen vorbei krächzt der Verkehr auf den mehrspurigen, asphaltierten Straßen, kreuz und quer, hin und her, mit ständigem Gehupe, welches dazu dient, dem Vorausfahrenden anzuzeigen, dass man von hinten kommt und überholen möchten. Denn eingezeichnet Fahrspuren gibt es nur auf den wenigsten der Straßen von Karachi und auch da, wo es sie gibt, werden sie nicht beachtet. Warum auch, wenn auf 3 Spuren sechs Fahrzeuge oder fahrzeugähnliche Gebilde nebeneinander fahren können. Ähnlich verhält es sich mit den Schutzhelmen für die Zweiradfahrer. Das Tragen dieser wird zwar auf zahlreichen Schildern entlang der breiten Straßen empfohlen, allein erreicht diese Botschaft die Menschen offensichtlich nicht. Es würde sicherlich auch ein wenig bizarr anmuten, wenn die Frau des Hauses, in vierter Reihe im Ladysitz auf dem klapprigen Zweirad sitzend, nach dem Sack Reis auf dem Lenker, dem Fahrer dahinter, der den Reis ausbalanciert und den zwei Kindern zwischen den Eltern, wenn diese Frau einen Helm tragen würde. Eng wird es nur, wenn einer der bunt bemalten und mit allerlei leuchtenden Figuren und Ornamenten verzierten, die zahlreichen Beulen und Kratzer überdeckend, LKW’s zwei oder drei der imaginären Fahrspuren besetzt. Dann gilt es besonders eindringlich auf sich aufmerksam zu machen, so wie ein kleiner Hund beim Gassi gehen, wenn er auf einen wesentlich größeren Artgenossen trifft.
Später am Vormittag öffnen die ersten Geschäfte und Basare und die Obdachlosen, die im Licht der Schaufenster ein wenig Schutz für die Nacht gesucht haben, machen sich auf ihre Reise durch den Tag, den nächsten, den es zu überleben gilt. Viel zu oft sind es noch Kinder, die tagsüber betteln oder an Straßenkreuzungen für ein paar Rupien die Scheiben der Autos putzen, wenn der Besitzer es zulässt. Andere versuchen kleine Spielzeuge oder Masken an Vorbeigehende zu verkaufen. Einige erwachsene Bettler haben sich als Frauen verkleidet und stark geschminkt. Auffallend vielen Bettlern fehlen Gliedmaßen. Es kursiert das Gerücht, dass Menschen von organisierten Banden absichtlich verstümmelt und dann zum Betteln auf die Straße geschickt werden.
Auch in die kleinen Imbisse und Restaurants entlang der Straßen zieht Leben ein. Oft erkennt man die angebotenen Speisen schon von weitem am Geruch, oder an den plakativ von dem Geschäft aufgehangenen, Tierleibern. Komplettiert wird das Bild von den zahlreichen mobilen Händlern, die entlang der Straßen ebenfalls ihre Waren anbieten. Zwischen den Geschäften, Restaurants, Imbissen und Ständen wusseln gegen Mittag bereits so viele Menschen kreuz und quer, wie auf den größten Einkaufsmeilen Deutschlands an einem sonnigen Samstagvormittag.
Das bunte Potpourri aus lebendigen Farben, ungewohnten und ungenießbaren Gerüchen, dem Straßenlärm und Staub in drückend warm-feuchter Luft wirkt in seiner Intensität betäubend.
Ab und zu heulen Polizeisirenen ihre kurzfrequenten Töne in die Luft, was allerdings nicht bedeutet, dass sich wirklich ein Polizei-Fahrzeug nähert. Oft sind es die Konvois der Mächtigen und Reichen, Politiker, Militärs und Geschäftsleute, die flankiert von PickUp’s, besetzt mit mehreren, bis unter die Zähne bewaffneten Leibwächtern, sich den Weg durch den Verkehr bahnen. Das wirkt dann, als würde Löwenrudel durch eine Nilpferdherde rennen, sie kommen durch, aber die Nilpferde bewegen sich langsam und geben den Weg nur widerwillig frei.
Mehrere Areale der, nach aktuellen Schätzungen, 16 Millionen-Einwohner-Stadt sind vom pakistanischen Militär „besetzt“. Sowohl die Luftwaffe als auch die Marine verfügen über große, von hohen Mauern umgebene, Stützpunkte. An den Mauern kleben Werbe-Plakate, die glückliche, junge Soldaten und Soldatinnen in Gardeuniform zeigen, mit der Aufforderung, es ihnen gleich zu tun. Die jungen, schmalen Männer, die in kleinen Gruppen vor den Kasernen laufen, mit weißem Hemd, schmaler, schwarzer Krawatte strahlen nicht so wie die Protagonisten auf den Plakaten, wirken aber auch nicht unglücklich.
Obwohl Karachi am Meer liegt versprüht die Stadt im den meisten Bezirken keinerlei maritimes Flair. Bis auf die ein oder andere Palme am Wegesrand, die ein oder andere, schwer bewachte Villa rechts und links der Straße und die auffällig vielen, bunten LKW’s, die sich damit abmühen, große Seecontainer über die Straßen zu schleppen, wie die Sherpas die Ausrüstungen der Bergsteiger am Mount Everest, gibt es kaum Hinweise. Das ändert sich schlagartig, wenn man es dann sieht, das große, weite Meer. Und es sieht genau so groß, weit und faszinierend schön aus, wie das Mittelmeer an der Cote d’azur, oder an der portugiesischen Algarveküste, ignoriert man den breiten, hellbraunen, mit Müll übersäten Sandstrand davor. Der stetige Klang der Brandung wirkt im Gegensatz zum lauten und hektischen Treiben in der Stadt wie eine Meditation, wie das Ohhhmmmm von Karachi.
Eigentlich müßte das Meer permanente Schmerzensschreie und Hilferufe von sich geben, jede Welle eine Klage, bei all dem, was die toxischen Brüder Lyari und Malir unaufhörlich über ihr Flussbeet hin zum blauen Ozean transportieren und in ihm abladen, ja in sein Innerstes pumpen. Wie eine schleichende Blutvergiftung. Alles was an Abwässern in Fabriken, Häusern und Wohnungen entsteht wird ungeklärt eingeleitet. An den schräg befestigten Ufern des Lyari türmen sich Berge von Plastikmülltüten und anderen Abfällen die langsam Richtung Flussbett rutschen und jeden Tag gibt es frischen Nachschub. An manchen Stellen wächst saftig grünes Gras und zwischen diesem und dem ganzen Unrat weiden Ziegen, Schafe, Rinder, Esel und Kamele. Mal fresse sie Gras, mal Müll. In Karachi existiert alles gleichzeitig und nebeneinander.
Gegen Abend, wenn der Mond den Platz der Sonne eingenommen hat und die Hitze des Tages in eine angenehme Wärme übergeht, ändert sich die Stimmung in der Stadt. Straßenlaternen und die Lichter der Schaufenster, Imbisse und Restaurants verbreiten ein warmes, anziehendes Licht, dem die Menschen folgen wie die Eintagsfliegen. Überall wird geröstet, gekocht, gebacken, frittiert, gedämpft, gerührt, gewendet, abgetropft, aufgetan, eingeschenkt, abgefüllt, eingepackt, serviert und abgedeckt, gespült und getrocknet. Es wird gelacht, gescherzt, geschwiegen, geredet, diskutiert, gegessen, getrunken, gerufen, fotografiert, gewhatsappt, gesurft, geschwärmt und genossen bis spät in die Nacht, bis die Müdigkeit sie alle vereint und sie unter dem Surren der Ventilatoren ihren Traum träumen.
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